Griechenland, Einfahrt zum ehemaligen Athener Flughafen Ellinikon: Eine junge afghanische Mutter sucht nach frischer Luft und Abwechslung. Der ständige Lärmpegel und der beengte Platz in der ehemaligen Ankunftshalle bewirkt Stress. Die junge Frau ist müde, doch sie hat ihre beiden Kinder ständig im Blick: die vierjährige Tochter, die mit einem Kugelschreiber auf einem Blatt Papier Kreise malt, und den zweijährigen Sohn, der sich mit Verstecken spielen die Zeit vertreibt. Seit einem Jahr und zwei Monaten lebt – oder besser vegetiert sie hier. Sie zählt die Tage und Wochen in dem verfallenen Flughafen.
Etwa eintausend Flüchtlinge – Erwachsene wie Kinder – sind in Zelten in der Ankunftshalle des ehemaligen Flughafens und in zwei Stadien untergebracht, die auf dem weiten Gelände von Ellinikon für die Olympischen Sommerspiele 2004 errichtet worden waren. Seither sind diese Gebäude dem Verfall preisgegeben. Ellinikon war nur als Provisorium für die Flüchtlinge gedacht, als Notunterkunft, nachdem Österreich und die Balkanländer Anfang 2016 ihre Grenzen dichtgemacht und der Flüchtlingsstrom sich in Griechenland staut.
Die drei Lager auf dem alten Athener Flughafen, die nun endlich geschlossen werden sollen, gelten als die schlimmsten auf dem griechischen Festland: als unsicher und als so unhygienisch, dass sie von Ärzten als gesundheitsgefährdend eingestuft werden. Ellinikon, das heißt auch leben ohne Privatsphäre und ohne großen Schutz vor tätlichen Angriffen. Die junge Mutter erzählt von „Problemen“, die es jede Nacht geben soll. Nächtliche Schlägereien unter Erwachsenen und die ständige Furcht sind das eine; Misshandlungen und sexuelle Übergriffe, vor allem auf minderjährige Flüchtlinge, die sich allein, ohne Begleitung durch Eltern und Verwandte durchschlagen und jederzeit stattfinden können, das andere. Selbst abgesonderte Bereiche für Kinder, die es in manchen, besser organisierten Lagern gibt, bieten nachts nicht unbedingt einen Schutz vor Eindringlingen. Was für die Erwachsenen schon wie der Eingang zur Hölle anmutet, ist für die Kinder und Jugendlichen (etwa ein Drittel der Personen) traumatisierend.
„Einige Kinder haben Glück und andere nicht“, sagte ein NGO-Mitarbeiter den Autoren einer jüngsten Studie der Universität von Harvard, die zu schockierenden Ergebnissen kommt. „Die Erwachsenen rundum behandeln sie meist wie vogelfrei: nächtliche Übergriffe in den Lagern, Verheiratungen minderjähriger Mädchen an ältere Flüchtlinge, käuflicher Sex für 15 Euro.“ Die griechische Regierung stellt die Angaben zur sexuellen Ausbeutung minderjähriger Flüchtlinge nicht in Abrede. „Wir haben Gründe zu glauben, dass dieses Phänomen existiert“, heißt es in einer Stellungnahme des Ministeriums für Migration.
Bei Kontrollen einschlägiger Orte der Polizei sei diese angeblich nie auf unbegleitete Flüchtlingskinder gestoßen. „Sie fanden Erwachsene, die zur Prostitution veranlasst wurden, aber nie Minderjährige.“ Gegen eine der involvierten NGO‘s laufen dafür Ermittlungen. Der griechische Migrationsminister übergab der Justiz zu Wochenbeginn ein Schreiben der EU-Kommission, in dem die Anschuldigungen detailliert werden. Mitarbeiter dieser NGO, deren Namen bisher nicht öffentlich gemacht wurde, sollen Flüchtlinge sexuell ausgebeutet und Mittel der EU, die für Flüchtlinge bestimmt waren, zweckentfremdet haben.
EKKA, die staatliche Behörde für soziale Fürsorge gibt an, dass 2.150 unbegleitete Flüchtlingskinder derzeit in Griechenland sind. Nur für knapp die Hälfte gibt es Plätze in neu eingerichteten Heimen; mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche befinden sich auf der Warteliste. Und 61 waren der jüngsten Statistik zufolge in Polizeigewahrsam. Völlig inakzeptabel für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Man könne Kinder nicht einsperren, heißt es dort. Mehr als 90 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen sind Jungen und über 14 Jahre alt. Die Zahl der undokumentierten Flüchtlingskinder, die auf den Straßen oder in besetzten Häusern in den drei Großstädten Athen, Thessaloniki und Patras leben, schätzen NGOs auf wenige hundert. Doch niemand weiß es wirklich.
UNHCR verwaltet den größten Teil der Heimplätze, mehr als 700, für junge unbegleitete Flüchtlinge in Griechenland. Die Mittel dafür kommen von der EU und sind outgesourct an NGOs, die sich auf die Betreuung spezialisiert haben. Ende Juli, so ist es geplant, wird das UNHCR seine 28 Heime dem griechischen Staat übergeben. Wie es dann weitergeht bzw. weitergehen könnte, lässt sich anhand der finanziellen „Griechischen Tragödie“ leicht ausmalen.
Ein Heim für junge Flüchtlinge zu organisieren, ist dabei eine aufwendige Unternehmung. „Xenia teens“, ein kleines Wohnhaus auf fünf Etagen in Piräus, beschäftigt 18 Mitarbeiter für ebenso viele jugendliche Bewohner: Psychologinnen, Sozialarbeiter, einen Koch, Sporttrainer, Übersetzer, Sicherheitpersonal. Junge Afghanen leben dort, Iraner und Syrer. Einige von ihnen geben gern Auskunft, berichten von dem langen Weg nach Europa. „Du musst gehen, hat meine Mutter gesagt“, erzählt ein 17-Jähriger aus Teheran. Seine Familie soll wegen ihrer politischen Gesinnung immer stärkerem Druck ausgesetzt gewesen sein. Andere im „Xenia“ sind verschlossener. „Auf der Flucht waren die Jugendlichen in einer Art Modus der Selbstverteidigung“, sagt Stella Mavridi, die Leiterin des Heims der griechischen NGO Nostos. „Doch jetzt, wo es nicht mehr ums Überleben geht, kommen alle psychologischen Probleme hoch.“ Bis sie wenigstens 18 sind, bleiben die jungen Flüchtlinge in Griechenland. Manche, die syrischen Jugendlichen zumal, können auf Asyl hoffen und Zusammenführung mit Familienangehörigen. Den anderen aber droht die Abschiebung zurück in die andere Hölle, sobald sie volljährig sind.
Ist das die Lösung, die wir als sog. „entwickelte“ Menschen des 21. Jahrhunderts auf die Migrationsfrage haben?
Quelle: Der Standard vom 1.6.2017, UNHCR, Al Jazeera